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Es ist ein Tag wie jeder andere. Ich sitze in meinem Auto und bin auf dem Weg, Paape und Rasmus abzuholen. Heute Abend steht eine Sendung auf dem Programm. Ich biege in die finale Straße ein. Paape steht da, in seiner Jogginghose, und grinst mich breit an. Ich gebe Gas, schneide eine Grimasse und bremse kurz vor ihm ab. Ein komischer Mann tritt von der Seite an mein Auto heran. Er labert mich voll, es würde sich um eine Spielstraße handeln, und er würde öfters beobachten, dass ich hier zu schnell fahre. Ich ärgere mich über den Kerl, weil ich normalerweise gerade auf solchen Straßen recht gesittet unterwegs bin. Paape erzählt mir auf dem Weg zu Rasmus, der Kerl sei eine „Luftpumpe“, arbeitslos und würde eh immer Zuhause vor seinem Fenster hängen, weil er nichts Besseres zu tun hätte.

Als wir Rasmus abholen, laufen uns die Hunde der Familie entgegen. Wunderschöne Hunde, Huskies. Sie gucken traurig, als Rasmus das Zauntor hinter sich schließt. Ich fühle mich ein wenig schuldig, weil ich ihnen ihren Spielkameraden wegnehme. Gott, was bin ich nur wieder egoistisch, die armen Hunde.

Wir sind nun auf dem direkten Weg ins Studio. Wir reden über die Sendung heute Abend. Paape spult wieder irgendwelche Ideen für die Zukunft herunter, die er bei Youtube aufgeschnappt hat. Als ich ihm sage, dass diese Ideen Bullshit sind, tut er das, was er immer tut, wenn ich von seinen Ideen nicht begeistert bin: Er verweist auf den Vlog. Schließlich wäre das ja auch seine Idee gewesen. Ich beleidige ihn auf meine nette Art. Er dankt mir dafür, indem er meine Mutter beleidigt. Irgendwie sind wir schon wie ein altes Ehepaar.

Wir kommen am Kreisel in Scheeßel an. Dort stehen wir einige Minuten. Scheiß Feierabendverkehr. Ich schaue gelangweilt durch die Gegend. Als ich nach links auf den gegenüberliegenden Bürgersteig blicke, sehe ich dort ein Mädchen liegen. Es liegt neben ihrem Fahrrad und hält ihre Hände schützend in die Luft. Ich sehe Autos anhalten und Personen rausstürzen, um dem Mädchen zu helfen. Ich bin geschockt. Dieser Anblick, wie dieses arme Mädchen da in einer Art Fötusstellung liegt, macht mich fertig. Wir sprechen im Auto darüber. Paape redet sich und uns ein, es sei bestimmt nicht so schlimm. Ich denke darüber nach, ebenfalls auszusteigen und zu helfen. Es stehen allerdings schon viel zu viele Menschen um das Mädchen herum – die eine Hälfte Gaffer, die andere Hälfte verantwortungsvolle Menschen, die dem Mädchen helfen. Daher fahre ich weiter.

Einige Tage später erfahre ich von Paape, dass das Mädchen verstorben ist. Es war ein Unfall, wie er an dieser Stelle leider öfters vorkommt. Teilweise ist der Geh- und Fahrradweg für die Autofahrer schlecht einzusehen. Wenn man dann selbst nicht genau guckt und unüberlegt die Straße überquert, kann das böse enden.

Mich macht das traurig. In letzter Zeit gab es sehr viele Unfälle bei uns in Scheeßel und Lauenbrück. Jugendliche, die gerade ihren Führerschein gemacht haben, fahren sich zu Tode. Aber auch Kinder oder Jugendliche, die auf dem Fahrrad unterwegs sind, werden teilweise angefahren. Wie schlimm muss sowas für die Eltern sein?

Dieser Tag, und das Bild von dem Mädchen, bleiben mir im Gedächtnis. Ich werde das nicht so schnell wieder los. Vielleicht ist es aber auch wichtig, dass einem mal vor Augen geführt wird, wie „zerbrechlich“ wir alle sind. Wie schnell sowas gehen kann. Teilweise passiert ein solcher Unfall, ohne dass es unsere eigene Schuld ist. Einfach von einer Sekunde auf die andere.

Was kann man selbst für Lehren daraus ziehen? Beim Autofahren noch mehr die Augen offen halten? Noch vorausschauender fahren? Oder muss man sogar soweit gehen, zu sagen, dass man jeden Tag seines Lebens genießen sollte – möglichst mit den Menschen, die man liebt? Oder was meinst Du, liebes Tagebuch?


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21 KOMMENTARE

  1. Als ich 13 war lebten wir in einer Reihenhaussiedlung. Der Vater eines der Nachbarkinder hatte seine Frau erdrosselt und sich danach selbst mit einer Schrotflinte in den Kopf geschossen. Aus Eifersucht. Er hinterließ wie gesagt seinen Sohn (auch 13) mit dem ich ganz gut befreundet war.

    Ich erinnere mich daran, dass wir wenige Tage nach dem Mord in dem Haus waren. Mein Nachbar sollte persönliche Gegenstände holen dürfen. Das Haus war voll von Erwachsenen die Akten wälzten. Ich sah die Treppe zum ersten Stock hoch. Ich weiß noch wie gruselig der Gedanke war, dass dort oben Tage zuvor ein Mann mit dem ich öfter geaprochen hatte sich und seine Frau getötet hatte.

    Richtig realisieren konnte ich das erst Wochen später als ich über meinen Hausaufgaben einen Nervenzusammenbruch erlitt (konnte vom Schreibtisch direkt aufs Haus schauen)

    Der Gedanke, dass mein Freund völlig allein war und seine Eltern nie wieder sehen würde machte mich fertig.

    Irgendwie hat mich das Erlebnis geprägt. Man weiß nie, wann man die Menschen die man liebt verlieren kann. Sei es weil jemand mordet, wegen Krankheiten oder aufgrund von Unfällen.

    Was ich mich frage: Wie denkst du im Nachhinein über den alten Mann der dich auf deinen Fahrstil hingewiesen hat? Relativierst du deine Gedanken diesbezüglich?

  2. Einer sehr traurige Story dir mir zeigt wie menschenlich du doch bist, obwohl du durchs Internet doch so fern bist.

    Du wirst deine schlüsse daraus ziehen und wissen wie du damit umgeben musst. Sowas nimmt wohl jeden mit.

    Lg
    Die Pizza

  3. Ja solche Augenblicke verdeutlichen wirklich wie schnell es passieren kann.

    Mein Vater ist auch erst letzte Woche, mitten im ruhigen Wohngebiet, auf dem Fahrrad von einem Auto umgefahren worden. Aussage des Fahrers: „Ich hab Sie gar nicht gesehen, Sonne hat geblendet“ Zum Glück hatte er einen Helm auf und es ist nix Gravierendes passiert.

  4. Das ist wirklich heftig.
    Solche Momente vergisst man wohl sein Leben lang nicht.
    Vorwürfe braucht ihr euch keine machen, eure Hilfe hätte da wohl nichts mehr verändert.

  5. Ich war mal Beifahrer bei jemanden der eine ältere Dame überfahren hat. Das war ein Schock, als die arme Frau gegen die Scheibe geknallt ist. Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl wie schnell die Leute zur Hilfe kamen, die Polizei da war und aussagen musste und anschließend die Dame ins Krankenhaus gebracht wurde. Grade mal 1 Stunde später danach im Unterricht sitze =/

    Als ich nachfragte wie es der Dame geht, wurde mir mitgeteilt das Sie jetzt im Heim wohnt und nicht mehr Gehen kann.

    Ich habe immernoch diese Schuldgefühle gegeüber der Dame, der Familie und auch dem Fahrer.
    Weil ich derjenige war der den Fahrer gefragt hat und dieser durch den Unfall deswegen unmengen an Geld einbüßen musste und er selbst grade so über die Runden kommt. Zusätzlich das er sich auch vor der Familie verantworten musste.
    Solche Vorfälle wünsch ich keinem.

  6. Ergreifende Geschichte, echt harter Tobak, es stimmt leider, dass jeder Tag dein letzter sein könnte. Man weiß nie was auf einen zu kommt, um so wichtiger ist es die Zeit die man hat sinnvoll zu nutzen. Dass mein ich nicht Gutmensch mäßig, sondern für einen selbst, mit was einen halt glücklich macht. Ich denke viel über den Tod nach seitdem meine Mutter 2012 an spät diagnostizierten Brustkrebs sehr schnell verstarb, sie hat bis ein halbes Jahr vor Exodus nichts bemerkt und war immer eine Lebefrau. Schon wieder mehr geworden als ich wollte, aber ich hoffe ihr versteht was ich meine. Steve weißt du den wer in dem Fall Schuld war, klar muss jeder Umsicht walten lassen, aber du schreibst ja selber wie viele sich bei euch leider tot fahren!

  7. Erstmal, weil es das wichtigste ist: Das mit dem Mädchen ist natürlich furchtbar. Es spielt dann auch gar keine Rolle wer Schuld daran ist, weil es sowieso zu spät für sie ist. Ich habe am Anfang auch gedacht, sie sei nur hingefallen und damit ist es gut, natürlich verletzt, aber nichts großes. Aber mit dem Ende habe ich nicht gerechnet.

    Was ich allerdings nicht verstehe ist, warum es so viele Leute gibt, die auf die Zerbrechlichkeit des Lebens hingewiesen werden müssen. Ich bin 26 Jahre alt, habe niemals in einer gefährlichen Gegend gewohnt, gehöre ziemlich genau zur deutschen Mittelschicht und umgebe mich auch nicht mit Leuten, die in irgendeine Risikogruppefallen, aber dem Tod begegne ich ständig – und das bereits seit vielen Jahren. Das sind Haustiere, die irgendwann sterben. Ältere Verwandte, deren Zeit einfach gekommen ist. Krankheiten die über Leute kommen, die man liebt (allem voran Krebs/Herzinfakte), auch wenn die entsprechenden Leute noch relativ jung sind (auch wenn das nicht jedes Mal den Tod bedeutete, zum Glück). Das sind Freunde die bei Autounfällen sterben oder die bei einem Überfall ermordet und in den Rhein geworfen werden. Da ist die Leiche die beim Sonntagsspaziergang aus der Donau gezogen wird und der Onkel, dessen Körper mit 40 einfach den Geist aufgibt.
    Ich halte mich für nichts besonderen, für den ganz normalen Durchschnitt halt. Und wie kann man, wenn das der Alltag ist, die eigene Sterblichkeit vergessen?

    • Weil die Menschen nicht gerne mit Dingen vor denen sie Angst haben konfrontiert werden, dasselbe gilt für Dinge die ihnen Fremd oder Unerklärlich sind.

      Ausserdem dürfte es für einige nen ziemlich beschissenes Gefühl sein herauszufinden das all die „tollen Sachen“ in ihrem Leben wie das neue Auto, das tolle Smartphone von XY oder der Mega PC und ihr Highscore in Generic Game X alle absolut bedeutungslos sind und sie am Ende trotz aller Schönfärberei ihre Zeit auf Erden damit vergeudet haben.

      Ne Menge Sache werden unwichtig wenn man den Tod auf einmal deutlich wahrnimmt: Mode, falsche Freunde, Beliebtsein, Geld haben, was andere von dir Denken, und all die anderen Auswüchse menschlicher Eitelkeit die wir uns einreden das sie wichtig sind oder wir sie brauchen.

      In gewisser Weise ist unsere ganze westliche Gesellschaft heute darauf aufgebaut den Tod zu verschleiern und auszublenden, und das mit möglichst viel Störgeräuschen und bunten drumherum. Mit Tod wird sich wenn nur in sehr übertriebenen (und meist extrem naiven) Darstellungen oder kaschierten Bildern beschäftigt.

      Alles in allen haben wir nen unnatürliches und künstliches Verhältnis zum Tod und allem was dazugehört aufgebaut, was schon fast an ne kollektive Geistestörung grenzt.

      • „und sie am Ende trotz aller Schönfärberei ihre Zeit auf Erden damit vergeudet haben.“

        Was wäre denn keine Vergeudung? Ich mein, am Ende ist alles egal, ob man nun materialistisch, als Arschloch oder als Menschenfreund gelebt hat. Klar, vielleicht will man, dass einen die Nachwelt in guter Erinnerung hat, aber auch das kann dir im Endeffekt völlig egal sein (abgesehen davon, dass sich an 99,9999% der Menschen eh keine Sau langfristig erinnert).

        Es ist doch das Schöne, das am Ende alle Menschen sterben, egal, wie sie gelebt haben. Also soll doch jeder so leben, das er Spaß mit seiner begrenzten Zeit hat. Und bei mir gehört da der fette Mega PC garantiert dazu.

        • Wenn du sagen kannst du hast gelebt, und das dein Leben bis zu dem Punkt es Wert war gelebt zu werden dann war es keine Verschwendung.

          Was das beinhaltet muss jeder für sich selbst herausfinden, die meisten Menschen die ich kenne die gestorben sind haben am Ende so einiges bereut was das „materialistisch sein“ angeht, bzw. wurden sich klar wie Idiotisch es war Sachen hinterherzurennen die sie sowieso nicht mitnehmen können, und die Sachen wie Familie oder einfach nicht alleine sein beim Sterben nicht ersetzen können.

          Klar ist der PC geil, und macht auch Spaß und all das, aber was nimmst du langfristig davon mit, und was hättest du sonst noch mit der Zeit machen können?

          Soll jetzt keine Predigt werden Marke „Wow zerstört dein Leben, geh lieber mit anderen Kindern spielen!“ (Ich hasse solche „Wie ich mit WoW aufhörte, und Mutter Theresa wurde“ Typen) sondern einfach nur ne kleiner Denkanstoß.

          Persönlich kenne ich viele deren Eltern (statistisch gesehen) in den nächsten 10-20 Jahren sterben werden, mein eigener Vater vmtl. innerhalb der nächsten 5.

          Die allermeisten verbringen kaum noch Zeit mit ihren Eltern und empfinden deren Gesellschaft als lästig oder zu anstrengend. Am Ende rächt sich das (fast) immer wenn die Eltern nicht mehr da sind, und dann stellt sich die Frage (für mich zumindest) war der neue Computer oder das neue Spiel die Zeit wirklich wert die du mit deinen Eltern verbringen hättest können? Grade wenn sie nach dir gefragt haben oder du weisst das es ihnen immer schlechter geht?

          Dasselbe gilt für Kinder, Freundinnen, Ehefrauen, Geschwister etc.

          Das Leben ist oft verdammt kurz, und ohne irgendwen mit dem man es teilen kann, oder dem man irgendwas hinterlassen kann ausser mein Haus, mein Auto, mein Sparkonto etc. ist es verdammt sinnlos.

          • Gut, manch einer mag sagen das Leben ist sowieso nur nen lose Verknüpfung zufälliger Ereignisse ohne Sinn, oder das es nen einziger grosser Witz ist mit dem Tod als Pointe.

            Aber zumindest ich denke das je älter ich werde das das Leben vlt. ohne sowas wie den Gedanken an einen Sinn angefangen hat, wir als denkende fühlende Wesen die uns unserer selbst und unserer Umgebung bewusst sind es aber nicht zwangsläufig so enden lassen müssen.

  8. Sowas passiert einfach leider viel zu oft…
    In unserer Nachbarschaft ist auch vor ein paar Jahren ein Kind im Teich ertrunken, einfach schrecklich sowas…

  9. Beim Lesen musste ich irgendwie an das typische „Ja, du als Lehrer!“ denken. In diesem Fall jedoch, weil ich mir richtig vorstellen konnte, wie du da im Auto saßt und dem Mädchen einfach helfen wolltest… . Das ist für mich einfach so diese typische, coole Lehrermentalität.

      • Deswegen trägt man einen Helm beim Fahrrad fahren. Aber wir (oder ich?) Ignoranten Menschen fahren trotzdem ohne Helm. Warum eigentlich?

        • Weil es meistens unbequem ist und weil „bestimmt eh nichts passiert“. Das ist dasselbe wie mit dem „ich schnall mich nicht an, ich fahr ja nur kurz“ oder „ich hab vielleicht getrunken, aber bin ja schnell zuhause“. Wir glauben, dass wir den Zufall ausschließen können, was dann eben leider furchtbar schief gehen kann.

          • Es passiert halt auch relativ wenig. Ich will dadurch keineswegs die angesprochenen Sicherheitsmaßnahmen in Frage stellen, denn die sind ja ein Grund dafür, dass so wenig passiert. Aber es passiert halt einfach wenig. Der einzige schwere Fahrradunfall aus meinem Umfeld war die Schwester einer Klassenkameradin, die von einem Betonmischer überrollt wurde – da hätte ein Helm auch nichts genützt. Autounfälle sind deutliche häufiger, aber immer noch in einem Rahmen, den ich nicht als dramatisch einschätzen würde.

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