Leuchtturm: Das Chamäleon Ursula

– Di, 04.10.: Das neue iPhone wird vorgestellt. Das ist ja wohl mal das Allerletzte! Kein iPhone 5? Wollen die mich eigentlich verarschen? Gut, doppelt so schnell, IOS 5, iCloud, neue Spracherkennung, 1080 HD Videos und 8 MP Kamera. Eigentlich gar nicht so schlecht, aber, aber… Ich will mein iPhone 5! Ich meine, ein neues iPhone darf doch nicht genauso aussehen, wie das alte Gerät. Wozu soll man sich dann noch groß in der Öffentlichkeit anrufen lassen, um langsam und auffällig das neue Handy aus der Tasche zu ziehen, damit alle neidisch draufschauen? Nachher denken die dann noch alle, ich hätte das alte iPhone. Dann wäre ich Lifestyle-mäßig doch voll unten durch! Was mache ich jetzt? Es gibt wohl nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich kaufe mir das neue iPhone, oder ich drucke mir den Schriftzug aus und klebe das „S“ einfach auf ein altes Gerät…

– Mi, 05.10.: Ich fahre nach Hannover, um mir bei Marcel mein Tattoo nachstechen zu lassen. Elf Jahre ist es jetzt her, dass ich mir damals, natürlich um eine Frau zu beeindrucken, ein Tattoo habe stechen lassen. Wie naiv ich damals war. Als könnte man mit einem Tattoo eine Frau gewinnen. Da kann ich ja nur lachen! Das Tattoo ist nach diesen elf Jahren ausgebleicht, genau wie meine Bewunderung zu der Dame von damals – Wow, krasser Satz, ich fühle mich gerade super männlich beim Schreiben. Am heutigen Tag habe ich meine Freundin natürlich mitgenommen, vielleicht kann ich sie beim Nachstechen beeindrucken, weil ich hart, männlich und schmerzresistent bin. Wir kommen in Hannover an, und Marcel öffnet uns die Tür. Er stellt uns seine Katzen vor – sein Kater Merlin ist extrem süß. Ich will ihn am liebsten gleich mitnehmen, aber Marcel sträubt sich – so ein Egoist! Dann stellt er mir sein Chamäleon Ursula vor. Ursula hat eine extrem lange Zunge. Sie schnappt sich vor meinen Augen eine Heuschrecke aus einem halben Meter Entfernung. Das macht mich ein bisschen geil, ich lasse es mir aber nicht anmerken.

Marcel hat mein Tattoo optisch ein wenig gepimpt, es gefällt mir sehr. Er fängt an, und die Schmerzen werden unerträglich. Ich kämpfe dagegen an. Dann merke ich, dass Marcel bisher nur mit seinem Kugelschreiber die Linien vorzeichnet. Jetzt geht es wirklich los: Marcel holt eine Nadel raus, die so groß ist, wie das Messer von Crocodile Dundee. Ich wimmere leise in mich hinein. Meine Freundin lächelt mich hämisch an: „Na, haste Schiss?“ – „Soll ich mal lachen!“, antworte ich und drücke panisch meinen Schließmuskel zusammen, damit ich mir nicht in die Hose mache. Marcel sagt mir, er habe die Maschine extra etwas stärker eingestellt, da ich dummer Idiot ihm im Vorgespräch verraten habe, dass der Tätowierer sich beim letzten Mal darüber beschwert hat, dass ich nicht bluten würde und eine „Gummihaut“ hätte. Was erwarten die Leute denn auch bitte? Was würde das für einen Eindruck machen, wenn man als Lichking bei jeder kleinen Nadel zu bluten anfängt? Alles Amateure!

Marcel sticht nun in den folgenden fast vier Stunden meine Tattoo nach. Ich bleibe stark und lasse mir nichts anmerken – ich weine einfach in mich hinein. Meiner Freundin scheint es viel Freude zu bereiten. Trotzdem gelingt es mir, sie zu täuschen: „Tut überhaupt nicht weh“, sage ich, während Marcel mir die Nadel durch den Schulterknochen rammt. Sie blättert in diversen Zeitungen und sucht ein Motiv für sich selbst. Wenn sie auf diesem Stuhl sitzt, werde ich da sein, und ich werde es genießen.

Marcel ist fertig und das End-Resultat sieht äußerst gelungen aus. Ich bin zufrieden, bezahle den Mann, verabschiede mich von Merlin und Ursula und verschwinde. Auf halbem Weg nach Scheeßel fällt mir auf, dass ich meine Freundin bei Marcel vergessen habe. Ups! Ich rufe bei Marcel an und bitte ihn darum, sie mit dem nächsten Zug nach Scheeßel nachzusenden. Ich meine „Hallo?“, ich fahre doch nicht nochmal den halben Weg zurück, schließlich bin ich stark verwundet…

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